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Eric Thomas Koerfer

Der Tod des Flohzirkusdirektors

François Simon «Der Tod des Flohzirkusdirektors»

Inhaltsangabe

Ottocaro Weiss will mit seiner Gehilfin Anja die Pest auf die Bühne bringen, weil äussere Umstände und «Nachwuchsmangel» ihn gezwungen haben, den bisherigen Betrieb seines Flohzirkus einzustellen. Pest bedeutet für ihn «Auslöschung von allem, was das Leben niedrig und gemein macht», mithin Freiheit. Ohne es zu wissen, wird er von einem Mäzen finanziert, der der entgegengesetzten Auffassung ist: «Die Pest ist eine Ordnungsmacht», sagt Johannes Wagner. Diesem gelingt es, mithilfe seines Agenten Moosbrugger eine Nummer in das neue Programm zu schmuggeln, in der die Pest nicht wie von Ottocaro Weiss theatralisch, sondern als naturwissenschaftliche Realität an Ratten vorgeführt wird.

Als Wagner in dem Glauben, der überzivilisierten Menschheit einen Dienst zu leisten, eine Epidemie auszulösen versucht, scheitert er an Ottocaro Weiss, der, um seine persönliche Glaubwürdigkeit zu retten und die verlorene politische Dimension zurückzugewinnen, den Schein des Theaters mit der Wirklichkeit vertauscht: Die illusionäre Freiheit der Bühne ist auf die Dauer nicht genug.

Kommentar von Marcel Martin

Dies ist der der Brecht'schen Theorie am nahestehenste Film seit geraumer Zeit: diese Qualifikation, die oftmals fälschlicherweise anderen Werken verliehen wurde, drängt sich hier mit Nachdruck nicht nur durch die Bild- und Tongestaltung auf ( die Zugriffnahme auf Zwischentitel und off-Kommentar als Mittel der Verfremdung), sondern auch durch das Gesamtkonzept der filmischen Arbeit. Es handelt sich hier effektiv um eine politische Fabel, eine Art Lehrstück, deren Sinn aus dem sich dauernd verändernden Handlungsverlauf herausgelesen werden kann.

Nach dem Tod, «der Ermordung» seiner begabten Tiere, muss sich der Flohzirkusdirektor Ottocaro Weiss, genussvoll von François Simon gespielt, nach einer neuen Beschäftigung umsehen. Anlässlich eines festlichen Trauerumzuges in einem Dorf entdeckt er, dass die Erinnerung an die Pest die Menschen aus ihrem trägen Konsumschlaf wachrütteln kann. Im gleichen Moment entscheidet sich ein misteriöser Kapitalist dafür, dass die durch eine mögliche Pestepidemie verbreitete Angst die Gesellschaft zum alten Glauben und zur konservativen Ordnung hinführen wird, eine Gesellschaft, die sich nach ihm durch Subversion in Zersetzung befindet. Ohne es zu wissen, wird Ottocaro Weiss Helfeshelfer in diesem teuflichen Plan.

«Ideen haben die Ansteckungskraft von Krankheiten», führt ein Zwischentitel aus. Und wenn der Flohzirkusdirektor ein Revolutionär ist ( das Portrait seines Grossvaters, das er unter seinem Zirkusdach gehängt hat, ist dasjenige von Bakunin), dann sucht sein Gegenspieler reaktionäres Gedankengut zu propagieren: gegen die rote Pest («Ein Gespenst geht um in Europa, schrieb Marx, das Gespenst des Kommunismus...») und für die schwarze Pest (den Faschismus) die die desorientierte und verängstigte Gesellschaft zu «Gesetz und Ordnung» führen wird. Als sein Plan misslingt, er entlarvt wird, wirft er sich vor nicht erkannt zu haben, dass Weiss ein Jude ist, somit ein «natürlicher Anstifter» zur Revolution.

Der Film von Thomas Koerfer, aus dem man sofort den Einfluss der deutschen Schule, und insbesondere von Alexander Kluge, ablesen kann, legt Zeugnis ab von der gegenwärtigen Schaffenskraft des deutschschweizerischen Kinos. Es handelt sich hier um ein schwieriges und dichtes Filmwerk, welches eine wache Aufmerksamkeit erfordert, jedoch durch seine Strenge und seinen Reichtum besticht. Und wenn die Moral mit dem Mass von Ernsthaftigkeit vorgetragen wird, die zum Nachdenken anregt, dann sind auch der Humor, der sie anreichert und das Vergnügen, das sie hervorruft, würdig des Meisters Brecht.

Marcel Martin, Internationale Woche der Filmkritik, Cannes (1974)

François Simon  «Der Tod des Flohzirkusdirektors»

François Simon, das Geheimnis

Ich erinnere mich an den Winter, den Schnee des Jahres 1971.

In den Gesprächen in den Schneelandschaften entstand die Grundform für den Film, den wir später «Der Tod des Flohzirkusdirektors» nannten. Und in diesen Gesprächen trug ich mir das Bild des Schauspielers, das mir die Filmgeschichte wichtig machte: François Simon. Ich trug in mir die Bilder, die ich von ihm in «Charles mort ou vif» gesehen hatte, die Bilder der Rolle des Charles Dé. Und ich meinte nicht nur Charles Dé, sondern auch wirklich auch François Simon gesehen zu haben. Sie bekamen eine eigene Kraft.

Und noch immer trage ich diese Bilder von diesem Schauspieler und von diesem Menschen in mir. Manchmal sind sie entfernt und zugedeckt, und manchmal sind sie wieder sehr nah und klar. Und erst heute ist mir klar geworden, dass Simon ein Meta- Schauspieler gewesen ist.

Er hat seine Rollen verkörpert, mit Präzision, Subtilität und Kraft, und er hat sich als Mensch auch selbst in die Rollen eingebracht. Und zudem ist mit ihm und über ihn etwas entstanden, was über die Rollen, das Spiel hinausgeht. Er stellte mehr dar, als was die Rollen ihm abverlangten. Er konnte so schwierig benennbare Dinge wie das Verhältnis des Menschen zu den Objekten, das Gehen in Zeit und Räumen, die Präsenz des Universums in ganz alltäglichen Szenen spürbar machen. Er konnte über den Körper den Geist ausdrücken.

Was befähigte François Simon zu dieser Ausdruckskraft?

Zuerst einmal hat er sich auf die Menschen, die er spielte, völlig eingelassen.

Er hat sie hinterfragt bis zur hintersten Zelle, und erst dann hat er ihnen Kontur gegeben.

Er hat seine Empfindungen und seinen Körper auf die Rollen eingelassen. Das ist anstrengend, das ist mutig, das kostet mit jeder neuen Rolle viel Kraft. Es ist die bedingungslose Übernahme der Rolle mit jeglicher Zelle, die den Meta- Ausdruck ermöglicht.

Und etwas Weiteres wird offensichtlich, wenn ich die von François Simon gespielten Rollen vor meinen Augen Revue passieren lasse: alle diese Menschen, die er dargestellt hat, hatten etwas mit ich gemein. In seinem Spiel hat er sich nie verraten.

Der anarchisch, aufmüpflerische Kellner in «L'invitation», der sich immer mehr verweigernde Charles Dé in «Charles mort ou vif», der in der Selbstbefragung von nichts zurückschreckende «Lear» von Bond, der nach dem Ursprung des Menschen suchende «Rousseau», sie alle bilden eine grosse Familie, haben gemeinsam, dass sie am Rande der Gesellschaft stehen, unerbittlich die grossen Fragen stellen, und in ihrer Lebenssituation sehr alleine sind.

François Simon hat die grossen Einsamen dieser Welt gespielt, verkörpert.

François Simon war der Schauspieler, dem man die Rollen auf den Leib, und auch, wie vermessen, auf die Seele schrieb. Sein Bild war da, bevor die eigene Geschichte Gestalt angenommen hatte, und so hat er selbst schon auf die Geschichte Einfluss genommen.

Und all dies spielte er mit einer grossen Direktheit und Einfachheit, und die Stärke des Ausdrucks wurde so umso mehr gesteigert. Einsam hat er in seinen Rollen für das bessere Leben gekämpft, so auch als Ottocaro Weiss im «Flohzirkus», und der Schauspieler der einsamen Rollen ist er geblieben. Als eigene Kraft ist er durch die Filme und Theaterstücke hindurchgegangen. Die wirkliche Verschmelzung mit einem anderen Menschen hat in seinen Rollen, und wahrscheinlich auch in seinem Spiel, nie stattfinden können. Das ist der Preis der Meta- Kraft gewesen.

Wie kann man als Mensch überleben, wenn man als Schauspieler immer wieder so viel gibt, sich nicht in oder hinter der Rollen versteckt, sondern in ihnen, geöffnet, mit allen Poren, den Menschen entgegentritt? Das verbraucht ungeheure Lebenskraft, das verschlingt den Lebensatem. Ich glaube, dass sich François Simon die Frage der Schonung nie gestellt hat.

Er verspürte, dass er im Spiel, in der Fiktion, der Wahrheit des Lebens näher stand, dass hier die Wahrheit greifbar war, dass sie grösser, eindrücklicher, beissender und schöner war.

Mit seinem Spiel erteilt er den Wirklichkeitskrämern die Lehre, dass erst in der leuchtenden Fiktion die grosse Wahrheit zu finden ist. Die Nähe zum Leben aber hat er in seinem Spiel nie verloren.

Offen und geöffnet war François Simon auch auf dem Drehort, sozusagen bereit den Lebenspuls auch da zu spüren und zu beeinflussen. Das konnte ihm keine Kraft nehmen. Jung fühlten wir uns alle, als wir den «Flohzirkus» drehten. Er aber war der Jüngste von uns allen.

Seine Kraft schien unerschöpflich, wie er sich auf seine Rolle einliess, das beeindruckte uns tief. Wenn er im Pesttheater in der Rolle des reichen Mannes, sich am Boden windend, am ganzen Körper zitternd, die Pest um Erbarmen anfleht, dann spielt Simon dies mit solch grossen Intensität, dass nicht nur der Lebenswille, sondern auch der Tod spürbar wurde. Immer wieder hat er diese Grenzsituationen gespielt, den Übergang vom Leben in den Tod.

«Tu ne connais pas la mort!», hat er mir einmal während der Dreharbeiten zugezischt, und seine Wahrheit wird es gehabt haben. Er kannte den Tod, hatte ihn unzählige Male gespielt und somit auch gelebt. Er hatte sich in seinen Rollen unzählige Male in die Situation begeben, in denen der Körper zusammenbricht, zur leblosen Hülle wird. Und immer, wenn er auf der Bühne, oder, noch stärker, im Film, diesen Moment darstellte, da konnte er spürbar machen, dass es etwas gab, was diesen toten Menschen überlebte. Er spielte sozusagen auch noch das Nachbild.

Er wusste soviel vom Leben, so viel vom Tod, dass er geradezu prädestiniert gewesen wäre, die grossen Rollen der Komik zu spielen. Auf der Bühne, im Theater, da hat er diese Rollen gespielt. Im Film sind sie nur Projekt geblieben.

Es gab einen Teil von Sentimentalität in seinem Spiel, mit dem ich gehadert habe. Ich habe den Ausdruck der Schärfe und Herbheit in ihm geliebt. Im «Flohzirkus» spielt er den Ottocaro Weiss in Deutsch, einer Sprache, die nicht ganz seine eigene ist. So ist nie Sentimentalität, sondern Gefühl entstanden.

Und weiter trage ich in mir die Bilder dieses Schauspielers und Menschen, und spüre den Ausdruck, der über diese Bilder hinweggeht. Immer wieder, wenn ich François Simon in einer mir noch nicht bekannten Rolle sehe, meine ich seinem Geheimnis näher gekommen zu sein.

Und immer wieder scheint er sich, lächelnd, zu entziehen. Sein Geheimnis, das gibt er nicht Preis, das stellt er immer wieder neu.

Thomas Koerfer

Setaufnahme «Der Tod des Flohzirkusdirektors»

Cast

Ottocaro Weiss, Flohzirkusdirektor François Simon
Johannes Wagner, Finanzier & Mäzen Paul Gogel
Stephan Moosbrugger, Mittelsmann Norbert Schwientek
Anja, ein Bauermädchen Janine Weill
Zirkusdirektor Gotthard Dietrich
Versicherungsagent Gerhard Dorfer
TV Redaktor Peter Kner
Germanist Wolfgang Rottsieper
Sprecher Wolfgang Warncke
Stadtbeamter Edzard Wüstendörfer

Crew

Drehbuch Dieter Feldhausen
Kamera Renato Berta
Kamera Assistent Carlo Varini
Script- und Cutterassistenz Christiane Lelarge
Ton Jeti Grigioni
Technik Aldo Ricci,
Claudio Ricci,
Ruedi Attinger
Musik Ernst Kölz
Mischung Aldo Ballabio
Kostüme Ruth Grädel
Schnitt Heinz Berner
Ausstattung Toutschka v. Goldschmidt
Aufnahmeleitung Luc Yersin
Flohzirkus Peter Mathes
Mitarbeiter- Produktion Jacqueline Burckhardt ,
Titine Mensch,
Peter Schüpbach

 

Regie und Produktion Thomas Koerfer

 

Format/Version 35mm; S/W; Deutsch; 1: 1,33
Dauer 111 min
Uraufführung Mannheim 1973
Produktion Thomas Koerfer Film Ltd.
Weltrechte Thomas Koerfer Film Ltd.
Verleih Schweiz Frenetic Films

DVD

In der "Thomas Koerfer Edition" DVD Box erhältlich.

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